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Freitag, 6. April 2007
Dr. Schäuble oder Wie ich lernte, den Großen Bruder zu lieben
neo42
19:16h
20. Juni 8 SA (== Schäuble-Aera; entspricht 2013 im (verbotenen) Gregorianischen Kalender) Liebes Tagebuch, ich schreibe dies in meinem Versteck, in unmittelbarer Angst um Leib und Leben. Ich weiß, dass sie mich finden werden, also beeile ich mich, meine Geschichte für die Nachwelt festzuhalten, falls die Sonne je wieder über einer neuen, besseren Welt aufgehen sollte. Eins vorweg: ich bin keineswegs zum Revolutionär geboren, liebe eigentlich kaum etwas mehr als meine Ruhe, gutes Essen und ein paar angenehme Bücher. Bis zum Jahr 5 SA (2010) habe ich denn auch ein ruhiges Gelehrtenleben geführt. Zwar habe ich mich hier und da in Leserbriefen an die "Zeit", die "Frankfurter Rundschau" und andere mittlerweile verbotene bürgerlich-liberale bis sozialdemokratische Blätter über den sich abzeichnenden totalitären Überwachungsstaat ausgelassen, hätte mir aber niemals vorstellen können, in irgendeiner Form aktiv zu werden. Ich war, wie gesagt, zu bequem dazu, und wohl auch ein wenig feige. Erst, als ich dazu gezwungen wurde, ergriff ich die Initiative -- wie ich heute weiß, viel zu spät. Ich schäme mich dafür, denn obwohl ich Klassiker wie "1984" und "Brave New World" vieltausendfach gelesen und als (ehemaliger) Professor für Moderne Angloamerikanische Litaratur sogar über Letzteres promoviert habe, und obwohl mir nie der dumme Satz "Wer nichts zu verbergen hat ..." über die Lippen gekommen wäre, habe ich doch im Grunde nicht besser gehandelt als all die Philister, die diesen, egal welche neuen Zumutungen noch eingeführt wurden, zu ihrem unerschütterlichen Wahlspruch erhoben hatten. Aber genug der Vorrede, ich werde nun chronlogisch berichten. Den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Welt in den letzten Jahren sehen viele bei den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im Jahre 3 v.SA. Der damalige US-Präsident (und heutige unumschränkte Führer des Heiligen Christlichen Reiches von Euramerika) George W. Bush verkündete den "totalen Krieg gegen den Terror". In vorauseilendem Gehorsam zogen die meisten europäischen Regierungen begeistert mit, und die USA und ihre Verbündeten begannen, nacheinander Afghanistan, den Irak, den Iran, Syrien, Nordkorea, Kuba und schließlich Venezuela anzugreifen, zu besetzen und einen "Regimewechsel" herbeizuführen. Was die "Vereinigte Bild-Zeitung des Deutschen Reiches" -- die einzige noch erlaubte Publikation -- gern verschweigt: in all diesen Ländern herrscht bis heute das reinste Chaos, Morde und Anschläge auf offener Straße sind an der Tagesordnung, Hungersnöte und Seuchen raffen große Teile der Bevölkerung dahin, kurz: obwohl einige dieser Staaten vor dem jeweiligen Krieg faschistoide Diktaturen waren, geht es den Menschen dort heute NOCH schlechter (ganz zu schweigen von Kuba und Venezuela, wo Zehntausende von Castro- bzw. Chavez-Anhängern in den Folterlagern verschollen sind). Zur gleichen Zeit begannen die massiven innenpolitischen Verschärfungen, alle im Namen der "Terrorbekämpfung". Wie üblich fing es schleichend an, mit lauter Einzelmaßnahmen wie Vorratsdatenspeicherung, biometrischen Pässen, später auch RFID-Pflichtimplantanten (nachdem eine Horde Idioten sich diese freiwillig einpflanzen ließen, um 2% Rabatt in allen Geschäften der Payback-Alliance zu erhalten) und so weiter. Und als im Jahre 4 SA größere Gruppen in Ansätzen erkannten, was im Gange war, war es längst zu spät. Die Gesetzesänderungen hatten unbemerkt dafür gesorgt, dass jeder, der sich auch nur auf einer Demonstration dagagen blicken ließ oder im (nur noch per RFID-Scan und persönlicher Beantragung eines Politischen Zuverlässigkeitszeugnisses beim Heimatschutzamt nutzbaren) Internet das Geringste dagegen äußerte, von einem Schnellgericht zu einigen Jahren Arbeitshaus verurteilt wurde -- der gleiche Ort, wohin zuvor schon sämtliche bisherigen "Hartz-IV"-Empfänger und Sozial Inkompetenten Personen gebracht worden waren. Mein persönliches Schicksal erfüllte sich im Jahr 5 SA, als mein Mitarbeiter Dr. Said Ali -- ein gebildeter, geistvoller Mann und einer meiner besten Freunde -- verhaftet wurde. Ein Student, der bei ihm (völlig zu Recht) bei einer Prüfung durchgefallen war, hatte dem Heimatschutzamt gemeldet, dass sich zwischen all der Fachliteratur in seinem Büro auch der Koran befand; dieser stand seit 4 SA auf dem Index der Politisch Unzuverlässigen Literatur, die insbesondere im Lehrbetrieb nicht mehr verwendet werden durfte. Der Koran wurde gefunden, und Dr. Ali durfte zwischen zwanzig Jahren Arbeitshaus oder der Abschiebung in den Irak wählen (wie einige vielleicht noch wissen, bestand die erste Amtshandlung nach der Machtübernahme durch Dr. Schäuble darin, allen Nicht-Blutsdeutschen die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen). Dr. Ali versuchte zu fliehen und starb durch ungeklärte Umstände bei seiner erneuten Festnahme (in einem Brief an seine kurz danach zwangsabgeschobene Frau hieß es, es sei ein bedauerlicher Unfall gewesen, den er sich durch seinen törichten Fluchtversuch selbst zuzuschreiben hätte; dem Schreiben lag eine Rechnung über 48.500,-- Neue Reichsmark bei, die Dr. Alis Frau für die Kosten seiner Vefolgung zahlen sollte). Für mich war der Tod meines Freundes das Signal, meinen bisherigen halbherzigen Worten endlich Taten folgen zu lassen. Ich ließ mein Gesicht von einem alten Freund, der Chirurg war, stark verändern; ein undurchsichtiger Hacker änderte für 4.000,-- NR die ID meines RFID-Chips (ein Weg, ihn ohne Detonation zu entfernen, wurde noch immer nicht gefunden; und ich brachte es auch nicht über mich, mir den linken Unterarm amputieren zu lassen). Dann schloss ich mich einer demokratischen Untergrundbewegung an, und erst von dort aus veröffentlichte ich eine ganzseitige Protestanzeige gegen Dr. Alis Behandlung in der damals noch erlaubten Frankfurter Allgemeinen; ich bekam sie nur durch, weil jemad aus unserer Widerstandsgruppe einen Mitarbeiter der Verlagsdruckerei kannte, der sie in letzter Minute in die Satzdateien schmuggelte und uns noch in derselben Nacht in den Untergrund folgte. Seitdem nehme ich -- keineswegs in leitender Position -- an allerlei symbolischen Aktionen (Flugblätter usw.) sowie an handfesten Sabotageakten gegen die allgegenwärtigen Überwachungsanlagen teil. Doch nun hat sich herausgestellt, dass es in unseren Reihen einen Ver[[unleserlich durch Blutfleck]] gibt, der unser Versteck dem Hei... [[hier endet die Aufzeichnung]] 20. Juni 10 SA Liebes Tagebuch, heute ist der zweite Jahrestag meiner Befreiung, und ich begehe ihn mit meinen Kollegen aus der Informationsabteilung des Heimatschutzamtes. Zuerst waren wir alle in der Kirche und haben per Videoleinwand ergriffen einer Predigt von Papst Pius XIII. (ehemals Joachim Kardinal Meisner von Köln) gelauscht. Er begrüßte die neuerliche Einheit von Staat und Kirche im Großdeutschen Reich, freute sich über die jüngst eingeführte Allgemeine Taufplicht und wiederholte seine Forderung, alle Muselmanen, Juden und Ausübenden Außerehelicher und Widernatürlicher Sexualität zu kasernieren, zu sterilisieren und zu füsilieren. Tosender Beifall erhob sich, und wir alle schworen uns, im Namen des Wahren Glaubens daran teilzunehmen, Seine Vision wahrzumachen. Zurück am Arbeitsplatz dann die Überraschung: ein Schreiben von General Müntefering, dem Stellvertreter unseres Erhabenen Führers Dr. Schäuble, lag auf meinem Schreibtisch! Er gratulierte mir von Herzen zum Jahrestag meiner Menschwerdung und Neugeburt. Zusammenfassend möchte ich noch einmal betonen, wie unendlich dankbar ich den fürsorglichen Ärzten und Krankenpflegern im St.-Lobotomius-Hospital (muss mal im Heiligenkalender nachschlagen, was dieser fromme Mann zum Wohle der Christenheit gewirkt hat) für alles bin, was sie an mir vollbracht haben. Vom Saulus zum Paulus habe ich mich entwickelt, vom miesepetrigen, agnostischen, gar vom Gift des Sozialismus angesteckten europäischen Intellektuellen zu einem Wahrhaft Neuen Deutschen Menschen, der voll Freude und Zuversicht die Segnungen der uns alle liebenden Fürsorger begrüßt und mit Inbrunst daran mitwirkt, dass sie allen Verirrten, wie ich einer war, zuteil werden mögen. Ein wenig schäme ich mich noch immer (obwohl man mir zwischen den anstrengenden Behandlungen immer wieder erklärt hat, dass ich krank und daher nicht schuld war), dass ich jemals die Erhabene Wahrheit und Weisheit der Entscheidungen unserer Gottgesandten Führung und gar unseres Erhabenen Führers Dr. Schäuble in Zweifel gezogen habe. Aber nun bin ich endgültig geheilt: ich liebe Dr. Schäuble. [Erstveröffentlichung durch den Autor im Heise-Forum unter http://www.heise.de/newsticker/foren/go.shtml?read=1&msg_id=12525009&forum_id=115095] ... Link |
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