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Donnerstag, 16. Dezember 2004
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Die nachfolgende Rezension sollte eigentlich im Online-Magazin Telepolis erscheinen, war aber leider zu spät dran.

Unglaublich!

Der neue Pixar-Film »The Incredibles«

Die abenfüllenden Filme der Pixar Animation Studios hatten es noch nie nötig, allein vom »Wow-vollständig-computergeneriert«-Faktor zu leben. Von Anfang an haben John Lasseter, Andrew Stanton und Kollegen die 3D-Animation »nur« als Mittel zum Zweck eingesetzt, um unterhaltsame, witzige, rührende und immer wieder überraschende Geschichten zu erzählen. Auf dieser Ebene ist »The Incredibles« (»Die Unglaublichen«) eben ein weiteres Meisterwerk aus Steve Jobs' Erfolgsfilmschmiede.

Und doch ist der Film anders als »Toy Story«, »Findet Nemo« & Co.; trotz der zweifellos vorhandenen Slapstick-Szenen ist er ernster und zum Teil düsterer. Das liegt vor allem daran, dass die Hauptverantwortung diesmal nicht beim Stammpersonal von Pixar lag. »The Incredibles« ist ein Projekt des Drehbuchautors und Regisseurs Brad Bird, der mit dieser Idee an Pixar herantrat. Er war für zahlreiche Folgen der »Simpsons« verantwortlich und schuf 1999 den hochgelobten, aber leider untergegangenen Zeichentrickfilm »Der Gigant aus dem All«. Genau wie die »Unglaublichen« sprach dieser sowohl Kinder als auch Erwachsene an; anders als bei den früheren Pixar-Filmen kann man nicht behaupten, dass diese Werke primär Kinderfilme seien, die auch Erwachsenen Spaß machen. In den USA besitzt »The Incredibles« ein spezielles Rating, das Kindern den Eintritt nur in Begleitung Erwachsener erlaubt. Angesichts der Grausamkeit des Erzschurken Syndrome, der vor Mord und (kurz direkt gezeigter!) Folter nicht zurückschreckt, ist das vielleicht auch ganz gut so. Auf die FSK-Freigabe ab 6, die hierzulande erteilt wurde, sollte man sich also nicht unbedingt blind verlassen.

Zu Beginn des Films ist der übermenschlich starke Mr. Incredible in besseren Zeiten zu sehen: Auf dem Weg zu seiner Hochzeit mit der außerordentlich biegsamen Superheldin Elastigirl alias Helen entwurzelt er noch schnell einen Baum, um das Kätzchen einer alten Dame herunterzuholen, stoppt mit demselben Baum zwei fliehende Bankräuber, pflanzt den Baum korrekt wieder ein, erledigt (gemeinsam mit Elastigirl) einen weiteren Schurken, rettet einen Selbstmörder und stoppt einen fahrenden Zug, dessen Trasse durch eine Bombe zerstört wurde.

Auf dieser actiongeladenen Supertour tritt ein übereifriger Fan von Mr. Incredible (oder eher schon ein Stalker) auf: Buddy Pine, der gern IncrediBoy hieße und ein selbstgebasteltes »Superhelden«-Kostüm trägt. Mr. Incredible schickt ihn gedemütigt nach Hause, nachdem er ihm im letzten Augenblick das Leben gerettet hat. Anstatt Mr. Incredible Letzteres zu danken, schmiedet der Junge lieber finstere Rachepläne ...

Aber zunächst hat die etwas unsanfte Rettung des Selbstmörders Konsequenzen: Der Undankbare verklagt Mr. Incredible auf Schadenersatz, weil er sich wohl ein paar Rippen gebrochen hat und angeblich gar nicht gerettet werden wollte. Mr. Incredible unterliegt, und der Staat muss etliche Millionen zahlen. Wer das amerikanische Justizwesen beobachtet, kennt die Folgen: Nach diesem Präzedenzfall bricht eine immense Flut von Klagen über die Superhelden herein. Irgendwann wird es der Regierung zu teuer, und sie startet analog zu den bekannten Zeugenschutzprogrammen ein Superhelden-Schutzprogramm: die Superhelden erhalten Immunität, dürfen aber ab sofort keine Heldentaten mehr vollbringen und nur noch unter ihrer geheimen Identität leben.

Fünfzehn Jahre später: Der einstige Mr. Incredible hat einen ziemlichen Bierbauch angesetzt und fährt jeden Tag mit einem Trabant-ähnlichen Kleinwagen zu seiner langweiligen Arbeit bei einem grässlichen Versicherungskonzern. Aber ganz kann er nicht vom Heldentum lassen: Statt Auszahlungen im Interesse der Versicherung um jeden Preis zu verhindern (Grishams »Regenmacher« lässt grüßen), zeigt er seinen Kunden die geheimsten Kniffe und Winkelzüge, um ihr eigentlich verbrieftes Recht zu erhalten. Zu Hause im langweiligen Vorstadtbungalow wartet seine Frau mit den drei Kindern auf ihn. Sie führen ein fast normales Familienleben. Allerdings trifft sich Bob wöchentlich mit seinem Freund Lucius Best, dem ehemaligen Superhelden Frozone (kann Luftfeuchtigkeit zu Eis gefrieren lassen). Sie gehen nicht, wie sie ihren Frauen vormachen, zum Bowling, sondern hören heimlich den Polizeifunk ab und verhindern kleinere Verbrechen und Katastropgen. Hinzu kommt, dass die Kinder ebenfalls Superkräfte haben: Tochter Violet kann sich unsichtbar machen und schützende Kraftfelder erzeugen, Sohn Flash rennt schneller als der Blitz. Die beiden leiden unter der Zerrissenheit, ihre Superkräfte nicht einsetzen zu dürfen, aber eben doch nicht ganz normal zu sein. Nur bei Baby Jack-Jack haben sich bisher noch keine Superkräfte eingestellt.

Ausgerechnet an seinem schwärzesten Tag, an dem Bob seine Stelle verliert, erhält er ein faszinierendes Angebot: Im Auftrag einer Geheimorganisation soll er auf einer Karibikinsel gegen Superkampfroboter antreten. Er stellt sich freudestrahlend der Herausforderung - freilich, ohne seine Familie zu informieren -, denn er ahnt nicht, dass der Auftrag eine Falle ist. Sein Ex-Bewunderer Buddy will endlich Rache: Unter dem Decknamen Syndrome will er nacheinander alle ehemaligen Superhelden töten, die Welt einer übermenschlichen Bedrohung aussetzen und vermeintlich »retten«, um endlich als Superheld anerkannt zu werden. Dieser finstere Plan und seine Festung auf der Insel, einschließlich Raketenbasis, grandioser Lava-Kulissen und aufklappbarem Wasserfall, erinnern vor allem an diverse Bond-Bösewichter aus den alten Connery-Filmen. Auch der grandiose, bläserlastige Soundtrack von Michael Giacchino unterstreicht den Eindruck, dass die zweite Hälfte der »Incredibles« unter anderem der beste Bond-Film aller Zeiten ist.

In letzter Sekunde erfährt Bobs Familie durch Zufall (und durch die liebenswert-schrullige Superhelden-Kostümdesignerin Edna Mode), dass er in Gefahr ist. Nur durch die vereinten Superkräfte der ganzen Familie gelingt es schließlich, von der Insel zu entkommen und die Bedrohung abzuwenden - denn Syndrome ist sie längst außer Kontrolle geraten.

Dieser Plot enthält Anlagen zu vielerlei Filmgenres, und mehrere von ihnen werden tatsächlich ausgeführt. Im Vordergrund stehen natürlich die klassischen Superheldencomics und -filme. Brad Bird kopiert nicht plump und macht sich auch nicht hämisch darüber lustig, sondern vollführt eher eine elegante und doch leicht ironische Verbeugung vor den Höhepunkten dieses Genres. Daneben ist der Film packender Actionthriller, Slapstick-Komödie und Familiendrama in einem. Das alles wird in überwältigenden Bildern dargeboten, mit gewagter Kameraführung, Beleuchtung und Vertonung. Die große Erfahrung der Pixar-Animateure und das visuelle Talent Brad Birds haben einander zu Höchstleistungen angespornt, die alle bisherigen Pixar-Meisterwerke noch übertreffen. Natürlich haben die Techniker auch ihre Software wieder weiterentwickelt; so perfektes Wasser, Feuer und Wettergeschehen gab es in einem computeranimierten Film noch nie zu sehen.

Es wird oft darauf hingewiesen, dass die Hauptfiguren in »The Incredibles« zum ersten Mal Menschen sind. Gewiss ist das bemerkenswert, aber perfekt animierte Menschen gab es bei Pixar schon vorher: Man denke an die kleine Buh aus der »Monster-AG«, den miesen Spielzeugdieb Al in »Toy Story 2« oder den liebenswerten Greis, der sich in dem Oscar-prämierten Kurzfilm »Geri's Game« (online unter http://www.pixar.com/shorts/gg/theater/index.html) selbst im Schach besiegt und dabei den drohenden Infarkt überlistet. Und doch haben die Macher sich hier selbst übertroffen; bis in die Nebenrollen hinein überzeugen die Charaktere durch ihre absolut menschliche Mimik, Gestik und Motorik. Man vergisst über weite Strecken, dass man es mit computeranimierten Charakteren zu tun hat, obwohl (oder gerade weil?) ihre Proportionen grotesk und ihre Gesichter comichaft überzeichnet sind.

Das funktioniert vor allem, weil neben der technischen Perfektion die Gefühle stimmen: Jeder Zuschauer dürfte Sympathie für die allzu menschliche Superheldenfamilie und ihre Freunde empfinden; ihre Alltagsfreuden und -sorgen kommen jedem bekannt vor, ob Frust im langweiligen Bürojob, Geschwisterstreits oder schüchterne Teenager-Verliebtheit. Selbst der Erzschurke hat bei aller Bosheit ein nachvollziehbares menschliches Motiv, das ihn allerdings zu psychotischer Skrupellosigkeit verleitet. Ein vollkommenes Ekel ist dagegen Bobs Vorgesetzter in der Versicherung (in der deutschen Version gesprochen von Herbert Feuerstein), ein geiziger Kapitalist, für den der einzige Daseinszweck des Unternehmens die persönliche Bereicherung der Vorstandsetage ist - so unverschämt offen spricht das im wirklichen Leben höchstens Michael Rogowski aus. So hält sich das Mitleid auch arg in Grenzen, als Bob ihn in einem finalen Wutanfall nach all den Jahren der Demütigung durch die Betonwände mehrerer Büros und Gänge schleudert, worauf er ganzkörperbandagiert im Krankenhaus landet.

Das Drama zur Normalität verdammter Superhelden, das hier aufgeführt wird, ist letztendlich der Konflikt des unverstandenen Künstlers. In dieses Drama konnte Brad Bird sich bestimmt gut hineinversetzen, nachdem sein ambitionierter »Gigant aus dem All« (auch aufgrund unzureichender Werbung) an den Kinokassen floppte. Wenn man es so versteht, ist der neidische Buddy nichts weiter als ein Spießbürger, der in eine Kunstausstellung geht, verständnislos ein modernes Gemälde betrachtet und dann verächtlich ausruft: »Pah - so drei Striche dahin kritzeln, das kann ich auch!« Mit dem Unterschied, dass er dann auch beginnt (mangels echter Superkräfte mit technischen Tricks), die Kunst eines Superhelden auszuüben und so die Schwelle vom Spießer zum Psychopathen überschreitet. Konsequenterweise erinnert die geheime Identität als Versicherungsangestellter auch weniger an den erfolgreichen Journalisten Clark Kent alias Superman oder den Millionär Bruce Wayne (Batman), sondern frappierend an Franz Kafka. Der übte denselben Beruf aus, konnte ihn angesichts der menschenverachtenden Bürokratie nie leiden, und bezog gerade deshalb die Inspiration für viele seiner Meisterwerke daraus.

Überaus gelungen ist diesmal übrigens auch die deutsche Synchronisation (die Originalfassung habe ich leider noch nicht sehen können): Der wunderbare Markus Maria Profitlich ist eine Idealbesetzung für Mr. Incredible; er trifft sowohl für den wohlwollenden, aber leicht überheblichen Superhelden als auch für den müden, enttäuschten Vorstadtangestellten genau den richtigen Ton. Auch Jungschauspielerin Felicitas Woll als Violet, Barbara Schöneberger als geheimnisvolle Aufgraggeberin Mirage und sogar Kai Pflaume(!) als Frozone machen eine gute Figur. Die allerüberzeugendste Leistung erbringt aber vielleicht Mechthild Großmann, die für die charismatische, weltgewandte Modeschöpferin Edna Mode ihre dunkelste Stimmlage zum Einsatz bringt.

Eine tiefschürfende Interpretation könnte diesem erzählerisch und technisch anspruchsvollen Film gar nicht gerecht werden; es ist lohnenswerter, ihn zu erleben - und zwar am besten, solange er noch auf der großen Leinwand zu sehen ist. Der Film macht viel zu viel Spaß, um zu Tode analysiert zu werden. Auch die zahllosen Anspielungen auf andere Filme (aber niemals direkte Zitate) von zahllosen Bond-Filmen und »Mission Impossible« über »Matrix« bis hin zu «1984« sollte jeder selbst entdecken und sich daran freuen. Und außerdem werden Sie Edna kennen lernen, den wahrscheinlich unglaublichsten Pixar-Film-Charakter aller Zeiten. Lassen Sie sich überraschen!

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